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charles

verzauberter morgen

Dementi: Dies ist nichts Autobiographisches, es ist reine Fiktion.
Das heißt: Es ist nicht passiert.
Die Hauptperson hat nichts mit mir zu tun.
Sie ähnelt mir in keiner Weise.
Ich habe dies alles erfunden.


   Es ist nur ein Traum. Irgendeine leise, unsichere Stimme sagt mir: Nur ein Traum. Aber ich will es nicht glauben. Gefangen in dem Augenblick, in meinem Bett, das fahle Sonnenlicht auf meiner Stirn, öffne ich meine Augen und stelle fest, dass ich nicht allein bin. Daley. Er steht in meinem Zimmer mir gegenüber, und obwohl ich ihn fast ein Jahrzehnt lang nicht gesehen habe, was mir wie eine Ewigkeit vorkommt, sieht er aus wie früher. Für einen Moment sehe auch ich aus wie früher. Obwohl er nie mit mir an diesem Ort war - ich zog in dieses Appartment, nachdem er aus meinem Leben verschwunden war - macht alles einen perfekten Sinn für mich: Traumlogik, die nicht hinterfragt werden muss. Daley, flüstere ich. Er lächelt wortlos, offensichtlich erfreut, mich zu sehen.

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Charles

Zu weit

Über Richard

Stop!

Verzauberter Morgen

   Wenn wir uns in der Cafeteria wiedertrafen, nachdem wir den Tag in getrennten Klassen verbracht hatten, dann lächelte er so für mich, offensichtlich erfreut, mich zu sehen. Daley, sage ich, diesmal etwas lauter. Er öffnet seinen Mund, um zu sprechen, immer noch lächelnd, bewegungslos lächelnd. Fast kann ich ihn sprechen hören, aber seine Stimme schafft es nicht bis zu mir, löst sich aus seinem geisterhaften Lächeln und verliert sich hilflos in dem blau-grauen Teppichboden, mit dem mein ganzes Appartement ausgelegt ist. Daley. Vom Bett aus bewege ich mich auf ihn zu. Nichts sagt mir, was ich finden werde, wenn ich ihn erreiche. Ich bewege mich durch den Raum, hinweg über den grauenvollen Teppichboden, hinweg über einen Zeitraum von neun Jahren, hinweg über jegliche mögliche Realität. Ich greife nach ihm und erinnere mich neun Jahre zurück, an einen tief hängenden Vollmond, an eine Hand und eine andere Hand auf meinem Gesicht. Aber diesmal ist es meine Hand, die nach seinem Gesicht greift. Sie berührt warme Haut, hellbraune krause Bartstoppeln. Seine Hand streicht über meine. Du bist hier, sage ich zu ihm, und er nickt. Ja, sagt er, ich bin hier, Alex, ich bin zurück. Er macht einen Schritt nach vorne, und ich weiche zurück. Es tut mir leid, Daley, sage ich, ich wollte nicht so reagieren, ich habe es bloß nicht erwartet, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mir tut es auch leid, sagt Daley, so sollte es nicht laufen, aber ich musste es tun. Es tut mir wirklich leid. Nein, sage ich und mache wieder einen Schritt zurück, ich verstehe es. Jetzt - nach so langer Zeit - verstehe ich es. Er nickt, sein Lächeln so ruhig und bewegungslos, während das seidige Sonnenlicht duch den dünnen Vorhang auf uns fällt wie die Erinnerung an eine Gotteserscheinung. Ich lege mich wieder auf mein Bett, und er kommt und legt sich neben mich. Ich will es, flüstert er. Ich sehe ihn an. Sein Gesicht ist so jung, und ich bin jetzt so viel älter. Er ist noch ein Junge, aber ich bin kein Junge mehr, wie sehr ich es mir auch wünsche, noch mal so jung zu sein. Ich versuche, mich noch mal in diese Zeit zurückzuzaubern, aber ich fühle mich wie gelähmt vor Verlangen. So lege ich meinen Arm auf seine Brust und vergrabe meinen Kopf an seiner Schulter. Ich atme den Geruch von Haut ein, rein und weich. Ich bin eingebettet in seine Stärke wie ein Kind, als ob er der Erwachsene wäre. Aber das ist er nicht. Ich bin es. Plötzlich fällt mir ein, was passiert ist und gerade passiert. Ich löse mich von ihm, um sein Gesicht zu betrachten, aber --

   Ich liege mit dem Kopf nach unten auf meinem Bett, das Gesicht vergraben in einem eingedrückten alten Kissen, die einzige Haut, die ich hier spüre, ist meine eigene. Ich lasse den Blick über meinen Körper streifen, dann schaue ich nach oben zur Decke. Daley, sage ich - zu niemandem. Nur ein Traum, ich hätte es wissen müssen. Immer noch sehe ich seine Hand vor mir, schwielige kurze Finger. Aber ich fühle sie nicht über meine Haut streichen, nicht einmal mehr ganz leicht. Ich schaue auf meinen Wecker, der in zwei Minuten losgehen wird. Ich stelle ihn ab. Sinnlos, noch einmal einzuschlafen. Ich drehe mich auf den Rücken, richte die Kissen hinter mir auf und zünde mir eine Zigarette an. Ich denke an Daley, was ich bestimmt fünf Jahre lang nicht getan habe. Ab und zu reißt die Wunde wieder auf, ein kleiner, dumpfer Schmerz, den ich niemandem erklären könnte, auch nicht, wenn jemand da wäre um zuzuhören. Ich stelle mir vor, die Zigarette könnte mich ausfüllen, die stille, schmerzende Wunde verschliessen oder mir wenigstens Gesellschaft leisten. So ein alberner, unbedeutender kleiner Schmerz, aber - wie erwartet - wird er größer und größer und beginnt, alles andere zu überdecken. Ich sage zu meiner Zigarette, ich muss ruhig bleiben, ich flehe sie um Hilfe an, aber ich erhalte keine Antwort. Daley.

   Ich erinnere mich an einen Morgen, der Jahre zurückliegt, an einen heißen Sommermorgen ungefähr vor einem Jahrzehnt. Ich wurde in einem aufgeräumten Zimmer wach, in meinem Schlafzimmer: Normalerweise herrschte hier ein ziemliches Durcheinander, aber da es das Wochenende meiner High School - Abschlussfeier war und allerlei Besuch in unserem Haus zu erwarten war, hatte meine Mutter darauf bestanden, dass ich das Zimmer aufräumte. Es kam mir vor wie das Zimmer von jemand anderem, als ich dort aufwachte an jenem Morgen. Ich erinnere mich, dass ich mich sehr komisch fühlte, aber ich konnte mich nicht erinnern, warum: In der vorigen Nacht war etwas Ungewöhnliches passiert, aber ich hatte es aus meinem Gedächtnis gestrichen. So dachte ich zunächst, es könnte an der Hitze liegen, an dem trockenen Schweiß, der meine Poren verstopfte. Ich befreite mich von dem Laken, in das ich mich verheddert hatte, und stolperte ins Bad, das neben meinem Zimmer lag. Unter der Dusche hörte ich das Telefon klingeln. Ich dachte, es könne Daley sein, und damit kehrte meine Erinnerung zurück. Ich wusste wieder, was ich verdrängt hatte, was die Nacht zuvor geschehen war, und ich fühlte mich noch viel schmutziger, schrubbte hartnäckig mit dem Waschlappen über meine Haut, als könnte ich es abwaschen. Ich kam aus der Dusche heraus und fragte mich, wie ich den Tag überstehen sollte. Das schlimmste war, dass es nichts war, was ich mit irgend jemandem besprechen konnte. So zog ich mich an, setzte ein schrecklich gekünsteltes Lächeln auf und ging nach unten, um zu frühstücken. Meine Mutter saß am Küchentisch, hatte mir den Rücken zugewandt und rauchte: Ich konnte die Zigarette nicht sehen, aber über ihrem Gesicht einen Hauch blau-weißen Rauches, der sich, gefangen in einigen Sonnenstrahlen, wahllos in alle Richtungen verwirbelte ohne jedes erkennbare Muster. Sie hielt es nicht für nötig, sich nach mir umzudrehen, und sagte, dass Daley angerufen habe und dass es wichtig sei. Dann drehte sie langsam ihren Kopf und fixierte mich, als ob sie Bescheid wüsste, und ich fühlte, wie alles in mir zusammenfiel. Das Blut prickelte durch meine fast roh-gewaschene Haut, durch meinen ganzen Körper, aber irgendwie schaffte ich es zu fragen, ob noch Kaffee da sei, und sie zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder ihrem Magazin zu.

   Ich drücke die Zigarette aus und steige aus meinem Bett. Ich betrachte mich in dem langen Spiegel gegenüber: Ich sehe immer noch ganz gut aus, denke ich, allerdings ist das schwer zu beurteilen, weil das Licht hinter mir steht und ein großer Sprung quer über den Spiegel geht, der mich in zwei Hälften teilt und Brust und Bauch überdeckt. Ich bin noch im Rennen, sage ich zu mir, aber aus irgendeinem Grunde hat das immer noch vorteilhafte Aussehen meines Körpers absolut nichts dazu beigetragen, um Frauen anzuziehen, niemals. Ich bin jetzt siebenundzwanzig Jahre alt, was mir wirklich sehr alt vorkommt, aber in der ganzen Zeit habe ich nur eine Handvoll Beziehungen gehabt, die nie über zwei Monate hinausgingen. Ich schaue mir noch mal mein Spiegelbild an, dort, wo der Sprung nichts verbergen kann. Mit achtzehn war ich besser in Form, klar, aber für jemanden, der auf die dreißig zugeht, sehe ich noch gut aus. Und doch: Im Restaurant bin ich der einzige in dieser Altersgruppe. Die meisten anderen Kellner und Kellnerinnen sind so achtzehn oder neunzehn, bis auf das Tagespersonal, die sind alle vierzig-irgendwas oder älter. Ich behaupte mich trotzdem ganz gut. Ich bin freundlich, und ich bediene zügig. Siebenundzwanzig. Ich hätte nie gedacht, dass ich so alt werde, und noch liegt ein langer Weg vor mir.

   Als ich Daley vor über 10 Jahren kennenlernte, waren wir auf dem gesellschaftlichen Spektrum so weit auseinander wie zwei High School - Freshmen nur sein konnten. Ich verstand nicht und verstehe bis heute nicht, wie die Lotterie funktioniert, die darüber entscheidet, wer populär sein wird und wer nicht. Aber mit Beginn unserer High School Karriere hatte Daley das große Los gezogen und ich nicht. Er war humorvoll, athletisch und gutaussehend, und ich war, zumindest zu dieser Zeit, nichts davon. Am Anfang machte er sich über mich lustig, aber irgendwann im zweiten Halbjahr hörte er damit auf, obwohl ich das zunächst nicht bemerkte und ihn hasste, wie man nur jemanden auf dieser Welt hassen kann. In diesem Jahr saß ich in fast allen Klassen hinter ihm, und seine bösen Bemerkungen vom ersten Semester blieben an mir haften. Anfangs war ich im Mündlichen stark und hob meine Hand bei jeder Gelegenheit, aber jedesmal, wenn der Lehrer mich drannahm, wenn ich meinen Mund aufmachte, sagte Daley etwas, das die ganze Klasse dazu brachte, über mich zu lachen. Mit der Zeit sagte ich nichts mehr. Ich bohrte meine Augen in seinen Hinterkopf, in seinen breiten Rücken. In einem Anfall von Wahnsinn ging ich so weit, mir vorzustellen, ich würde ihn eines Tages so verletzen, wie er mich verletzt hatte, oder schlimmer noch, ich würde ihn töten. All das endete im späten Februar, als mein Englischlehrer in einer brillianten oder extrem sadistischen Eingebung beschloss, dass wir paarweise an einem Gruppenprojekt arbeiten sollten. Ich erinnere mich, wie er die Gruppen vorlas, Paare in alphabetischer Reihenfolge. Plötzlich überfiel mich heftige Angst, ich zählte schneller, als er lesen konnte, um festzustellen, dass meine schlimmste Befürchtung eingetreten war: Daley würde mein Partner sein. Daley drehte sich nach mir um, lächelte mich geheimnisvoll an und meinte: "Nun, Partner, wollen wir heute anfangen ?" Mit dem, was von meiner Arroganz noch übrig geblieben war, dachte ich, dass es besser für mich sei, nicht an den prominentesten Typ der Schule zu geraten. So nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und erwiderte: "Ich würde lieber einfach allein arbeiten." Daley lachte verächtlich, hielt inne, sah geradewegs durch mich hindurch und entgegnete: "Du musst keine Angst vor mir haben, Alex."

   Ich weiß bis heute nicht, wovor ich Angst haben soll. Ich mache mir nicht die Mühe, die Tür meines Appartements nachts abzuschließen, weil mir die Logik sagt, bei mir gibt's nichts zu stehlen, aber meine Mutter meint, ich gehe die falschen Risiken ein. Das ist die einzige Einsicht oder der einzige Rat, den sie mir meines Wissens je gegeben hat, und ich weiß noch nicht mal, was sie damit meinte. Sie ist im Moment so mit sich selbst beschäftigt - sie versucht verzweifelt, einen dritten Ehemann an Land zu ziehen -, dass sie sich nicht die Mühe macht, sich um mich zu kümmern. Wenn ich sie anrufe, um eins meiner Probleme mit ihr zu besprechen, dann erklärt sie mir wieder und wieder, dass ich jetzt erwachsen sei und das nicht ihr Ding sei. Ich versuche es gar nicht mehr, zumal ich Ihren neuen Lover verabscheue und es ablehne, sie in seinem Haus anzurufen. Ich schüttle meinen Kopf, wie ich es oft mache, wenn ich über meine Mutter nachdenke, und gehe in die Küche. Ich setze etwas Wasser auf den Herd, um Kaffee zu machen, und schaue geistesabwesend auf den Kessel, während die Metallringe darunter in hellem Orange glühen. Ich fülle etwas Kaffee in den Filter und spüre plötzlich, dass ich nicht mehr allein bin: Augen sehen auf meinen Rücken. Ich drehe mich um: Daley ist wieder bei mir. Nur hat er diesmal mein Alter, so wie er jetzt aussehen würde, sein Gesicht leicht gealtert, wenn auch nicht so drastisch wie meins. "Daley", sage ich und glaube es nicht.

   Ich erinnere mich an seine Hand, wie sie meine Aufmerksamkeit für die eine entscheidende Sekunde auf sich zog, seine Hand, die auf mich zukam. Dann erinnere ich mich, wie ich aufschaute und den Mond ansah. Er sagte mir, dass er es einfach tun müsse, einfach tun müsse. Ich war außerstande gewesen zu sprechen. Daleys Hand überdeckte den Mond, so als ob er die weiße Scheibe vom Himmel reißen wollte, in dieser einen entscheidenden Sekunde. Ich fühlte mich verändert und wusste, dass ich mich niemals mehr so fühlen würde wie zuvor.

   Es war der Tag nach unserem High School - Abschluss. Es kommt mir vor wie gestern. Die Art, wie der Swimming Pool an dem Tag aussah: Kristallklares Blau, unerklärlich perfekt, von einem anderen Planeten. Ich schaute auf den Grund, ich sah Botschaften, die ich nicht deuten konnte, starrte auf sie, als ob das einen Sinn hineinbringen würde, die Wogen unter der Wasseroberfläche, die sich schlängelnden Licht-Diamanten, die über den Boden des Beckens tanzten, für mich bezaubernd, aber nicht zu entschlüsseln. Daley und ich am Rand. Ich starrte nach unten, und Daley beobachtete mich. "Wo schaust du hin?", fragte er, öffnete sein erstes Bier, lehnte sich in einem Gartenstuhl zurück und setzte sich voll der schattenlosen Sonne aus. Ich grinste und sagte "Dasselbe könnte ich dich fragen." Ich kam und setzte mich neben ihn, fummelte an einer eigenen Bierdose. Er grinste, lachte: "Ich dachte an das erste Jahr, als du so verängstigt und dürr und seltsam warst. Schau dich jetzt mal an!" Das überraschte mich, und so fragte ich ihn, was er meinte. "Nun", sagte er, "ich weiß nicht. Die High School haben wir hinter uns, und jetzt liegt die ganze Welt vor uns. Ich meinte nur, dass du so aussiehst, als ob du bereit dafür bist. Gib mir eine Zigarette!" Ich gab sie ihm und fühlte, wie die Sonne bereits meine Haut aufheizte, mein Gesicht fing an, sich zu röten. "Ich habe auf den Boden des Pools geschaut", sagte ich und lehnte mich zurück. "Oh", sagte Daley. Er hielt eine Sekunde inne, und das einzige Geräusch auf dieser Welt war das, das der Pool machte. Dann fügte er hinzu, "Manchmal glaube ich, er versucht, mit mir zu sprechen."

   "Daley", sage ich erneut. "Wie bist du hier hingekommen?" Er schaut mich ausdruckslos an, nicht wirklich lächelnd, aber ich stelle mir vor, er tut es. Stelle mir vor, er ist hier bei mir, stelle mir vor, er setzt sich neben mich, und wir trinken eine Tasse Kaffee. Stelle mir das alles hier vor!

   "Ich mache mir nichts aus diesem Englisch-Projekt. Ich mache mir viel mehr Sorgen um dich", hatte er gesagt, als wir zu seinem Haus gekommen waren und uns allein in seinem Zimmer befanden. "Du machst dir Sorgen um mich?", fragte ich und konnte es nicht glauben. Es war wie Traumlogik, schwer zu hinterfragen. "Ich sitze da in der Klasse", fuhr er fort, "und ich fühle dich hinter mir in jeder verdammten Klasse, und du sprichst nicht mehr, du starrst mich einfach an. Ich weiß, dass du mich anstarrst, und ich weiß, was du denkst." Ich erinnere mich, dass ich ihn anschaute, als wollte er scherzen, aber es schien ihm ernster zu sein als je zuvor. Sein Gesicht war meistens geteilt durch ein dummes Grinsen, als ob er ständig high wäre oder eines der Cheerleader-Mädchen ihm gerade einen geblasen hatte. Nun war dieses Lächeln, das ich allmählich verachtete, völlig verschwunden, und seine braunen Augen brannten, durchströmt von einer Intensität, die ich niemals erwartet hätte. Mir gefiel nicht, worauf das hinauslief, und so zischte ich: "Was denke ich?" "Du hasst mich", sagte er. "Es ist nicht gut für dich, jemanden so zu hassen. Ich werde mich darum kümmern müssen." Es war wohl das am wenigsten erwartete Gespräch, das ich in meinem bisherigen Leben gehabt hatte, und ich war sprachlos. "Also, was können wir daran ändern? Wie kann ich es wieder ausbügeln?" Er dachte eine Sekunde nach und sagte: "Ich brauche eine Zigarette. Komm nach draußen mit mir!"

   Die Erinnerungen überfallen mich wie Schlaf, wie Träume. Sie versetzen mich an Plätze und in Zeiten, die es niemals gegeben haben mag, die sich aber im Augenblick schmerzhaft real anfühlen. Daley schaut mich an, immer noch wortlos, und ich weiß nicht mehr, ob er wirklich mit mir hier ist, ob es Einbildung ist oder überhaupt keine Zeit verstrichen ist. Vielleicht hat meine Phantasie die letzten neun Jahre erschaffen, und wir sind noch immer an seinem Pool. Vielleicht. Es macht soviel Sinn wie Daleys Anwesenheit hier.

   Der Pool. Ich war eingeschlafen nach so viel Bier. Als ich groggy und fast mit einem Kater aufwachte, wahrscheinlich mit Sonnenbrand, da war Daley weg. Verwirrt stolperte ich in sein Haus und folgte dem Klang der Musik in sein Zimmer. Ich hatte bei ihm nie so eine Musik gehört, eine Mischung zwischen Disco und irgendwas, das beinahe wie Techno klang, und mir fiel auf, wie wenig ich wirklich über Daley wusste.

   "Okay, gib mir eine!", sagte ich, als wir draußen waren. "Ich denke, du rauchst nicht", hatte Daley gesagt und zog seine Augenbrauen hoch. "Ich fang' damit an. Du wirst es mir beibringen", hatte ich entgegnet, während ich auf seiner Treppenstufe saß. Es war ein Spiel, ein Risiko, das ich bislang nicht eingegangen war. "Ich dachte nicht, dass kluge Jungs rauchen würden", hatte Daley gesagt und schien sich über mich lustig zu machen. "Halt's Maul und gib mir eine", hatte ich gesagt, ohne ihn anzuschauen. "Ich wusste es", hatte er entgegnet. Ich drehte mich nach ihm, um zu sehen, was er meinte. "Du bist cool."

   Ich klopfte an die Tür und öffnete sie ruckartig, bevor er Zeit hatte zu antworten. Daley drehte sich nicht mal um, stand splitternackt vor seinem Kleiderschrank auf der anderen Seite des Raums. Er wühlte in einem Stapel von Shirts. "Ich kann mich nicht entscheiden, was ich anziehen soll", sagte er. Ich zuckte mit den Schultern, obwohl er mich gar nicht sehen konnte, setzte mich auf sein Bett und versuchte, ihn nicht anzusehen. "Kommt darauf an, was wir heute nacht vorhaben", meinte ich. "Oh, weiß nicht", sagte er, drehte sich endlich nach mir um und nahm sich seine Zigaretten. "Ich mach' diese Prozedur jeden Tag durch. Ich brauche jemanden, der meine Kleider für mich zurechtlegt so wie meine Mutter, als ich ganz klein war." Ich lachte, während Daley mir eine Zigarette gab, und versuchte, meine Augen auf seine zu richten. Daley war nackt sehr ansehnlich, besonders wenn er ein bisschen was getrunken hatte. Es gab einen Witz in unserer Klasse, man könne daran, wie wenig Daley an habe, ermessen, wie cool eine Party gewesen sei. Dasselbe ließ sich nicht von mir sagen. Ich war noch ziemlich gehemmt ohne Kleidung, erst recht in Gesellschaft von jemandem, der auch unbekleidet war. Ich schaute auf seine Füße oder versuchte es. Ich wusste nicht, worauf ich sonst meine Augen richten sollte, und ich konnte sie nicht einfach tun lassen, was sie wollten. Ich versuchte, sie auf dem Boden zu halten, aber ab und zu wichen sie ab. Aufwärts. Ich wusste nicht, was ich wollte, also versuchte ich, gar nichts zu wollen. Ich zündete meine Zigarette an und beobachtete Daley aus den Augenwinkeln, während er sich selbst eine anzündete. Geschmeidige Muskulatur. Er trainierte seinen Körper so viel, wie ich das tat, wenn auch nicht todernst betrieben. Aber anders als ich war er mit Muskeln gesegnet, die sich schnell entwickelten und immer genau richtig aussahen. "Meine Mutter hat mir nie die Klamotten zurechtgelegt. Das war vom ersten Tag an meine Sache", bemerkte ich und nahm ein Magazin, das auf dem Boden lag, während ich Daley von der Seite im Auge behielt. "Hm, du hast diesen sicheren modischen Instinkt aus eigener Kraft entwickelt?" "Halt verdammt noch mal dein dummes Maul!", sagte ich und blätterte die Seiten um. Ich versuchte, nichts zu wissen, aber dann passierte es. Daley bewegte abrupt seine freie Hand, es erregte meine Aufmerksamkeit und ich hob meinen Kopf. Es war eine Falle. Daley kratzte sich die Eier und ich schaute ihn dabei an. Schuldbewusst erhob ich meine Augen, um festzustellen, dass er mich anschaute, wie ich ihn anschaute. Erwischt. Der Moment dauerte länger als alles zuvor, und ich wand mich. "Zieh dir was an!", war alles, was ich rausbrachte, und Daley lachte mich an. Ich wusste nicht genau, worüber er lachte, aber es war egal, weil er sich eine Unterhose griff - das Weiß zog meine Augen wieder an - und das Thema wechselte.

   Der Kessel pfeift ungeduldig, und ich nehme ihn vom Herd, ohne die Kochplatte auszuschalten oder meine Augen von Daleys Gesicht zu lassen. "Sag was!", knurre ich mit schwerer und fester Stimme, so drohend, wie ich es sonst nie hinbekommen habe. "Da gibt's nichts mehr zu sagen", antwortet er, ohne seine Lippen zu bewegen. "Verdammt, das ist nicht wahr, und du weißt es", sage ich und mache einen ruckartigen Schritt nach vorn. Ich möchte ihn schlagen, aber ich weiß, dass ich es nicht kann, weil meine Hand einfach durch das Trugbild gleiten und nur Luft zerteilen wird. "Du hast es getan. Nichts bleibt", sagt er. Ich stehe da, halte den Kessel und fühle die Hitze der Kochplatte an meinem Bauch, an meinem Arm. "Nichts", sage ich. "Überhaupt nichts." Der Dampf des Kessels löst sich in Luft auf, wird nichts - wie Daley, wie ich.

   Eine Woche später sagte mir meine Mutter, dass Daley wieder angerufen habe. "Um ‚Auf Wiedersehen' zu sagen", fügte sie hinzu. "Auf Wiedersehen? Hat er gesagt, wo er hingeht?" Sie schüttelte den Kopf, zuckte mit den Schultern, drehte mir den Rücken zu und ging. An dem Morgen stand ich in der Küche, hielt den Telefonhörer in meiner Hand, wog ihn wie eine empfindliche Blume hin und her, um ihn dann schließlich wieder auf die Gabel zu legen.

   "Ich will dir was zeigen, in dem Waldstück hinter meinem Haus", hatte er gesagt. "So, was denn?", hatte ich gefragt. "Überraschung.", entgegnete er frech grinsend. "Also was?", hatte ich gefragt. "Weiß nicht, hast du Bock, auf eine Party zu gehen?" Ich hatte genickt. "Gut", hatte er gesagt, "ich auch, und ich habe da was gehört von einer High School - Abschlussfeier eine Straße weiter. Aber es könnte ein Haufen Idioten dabei sein." Ich lachte und schaute zur Decke. "Wenn es Freibier gibt, kann's nicht schaden vorbeizugehen", meinte ich und versuchte, meinen Blick in dem Weiß der Decken-Vertäfelung zu verlieren. "Also, was willst du mir zeigen?", fragte ich. "Du wirst es schon sehen", bemerkte er. Ich schaute zu ihm auf. Er starrte mich an. Ein merkwürdiger Gesichtsausdruck, als ob er mich ausrechnen wollte, als ob er rauskriegen wollte, was mein nächster Schritt sein würde, was mir in diesem Moment komisch vorkam, denn ich hatte selbst keine Ahnung.

   "Also, warum bist du hier?", frage ich ihn. "Du bist vor langer Zeit gegangen, und jedesmal wenn ich versuche, mit meinen Erinnerungen an das, was passiert ist, zur Ruhe zu kommen, kommst du zurück. Du bist nicht mal tot, wie kannst du mich verfolgen?" Seine Augen sind wie Monde, weiß, wie der Mond in dieser Nacht unter den Sternen, in dieser Nacht waren die Sterne bleich und erblassten zur Bedeutungslosigkeit. Ich war unter ihnen gerannt, zurück in ein Leben, das Sinn machte, so verzweifelt auf der Suche nach Klarheit, nicht den Hauch einer Ahnung, dass ich sie nie bekommen würde. Neun Jahre später, und ich habe sie nie bekommen. "Warum tust du mir das an?", frage ich, und er bleibt gelassen, wortlos. Neun Jahre später und alles, was ich habe, sind Erinnerungen an eine Hand über dem Mond, eine Hand über meinem Mund, an den Himmel, der über mir hinwegglitt. "Verdammter Typ", sage ich und schütte mir eine Tasse Kaffee ein. Ich sehe jetzt, dass er nicht wirklich da ist und nie war. Nur ein Traum, und ich habe Tränen in den Augen. Nur ein Traum.

   Daley hatte mir die Zigarette gegeben, und ich schaute ein wenig beklommen darauf. "Es ist ein zweistufiger Vorgang", meinte er. "Bring den Rauch in den Mund, dann nimm die Zigarette aus dem Mund und zieh' den Rauch in die Lunge. Es ist wirklich nicht schwierig." Ich versuchte es, so zu machen, wie er gesagt hatte, aber es hatte sich bei ihm leichter angehört, als es wirklich war. Ich brauchte fast die ganze Zigarette, bis ich es hinbekam. "Wow," sagte ich, "das ist ziemlich cool." Er nickte. "Wenn du Lungenkrebs kriegst, ist es meine Schuld." "Nah", entgegnete ich, "ich hab' darum gebeten." "Alex", sagte er, "das hört sich jetzt sehr seltsam an. Aber ich möchte, dass du aufhörst, mich zu hassen." Ich wäre beinahe an dem Rauch erstickt und musste kräftig husten. Er fuhr fort, ohne meinen Ausbruch groß zu bemerken. "Es gibt so verdammt viele Leichtgewichte da draußen, und es ist so einfach, von denen runtergezogen zu werden. Ich bewundere dich, weil du nicht so bist, und selbst wenn du nicht mein Freund sein wirst, solltest du wissen, dass mir all die dumme Scheiße, die ich zu dir gesagt habe, leid tut." Mein Kopf war ein wenig leicht von dem Rauch, mein Hals schmerzte, und mir war ein wenig schwindelig von dem Sauerstoffverlust. Ich grinste und schaute auf die Bäume, die sich in der kalten Dämmerung wiegten. Es waren so viele schweigende Zuschauer, jeder von ihnen umgeben mit einem Kreis halb geschmolzenen Schnees. "Entschuldigung angenommen", sagte ich so lässig, wie ich konnte. "Ich wusste es", sagte Daley und gab mir die zweite Zigarette, nach der ich nicht zu fragen gewagt hatte. "Du bist cool." Und ich lachte.

   Ich wische die Tränen ab, die sich in meinen Augen bilden, die Tränen, die nicht von meinem Gesicht hinabfließen wollen. Ich zünde mir noch eine Zigarette an und warte darauf, dass der Kaffee sich abkühlt. "Ich hätte...", flüstere ich zu mir selbst, unfähig, den Satz zu beenden, unfähig, den Gedanken zu vollenden. Ich hätte was? Mehr als je zuvor wünsche ich, ich könnte die Zeit anhalten und zurückspulen, dabei weiß ich nicht mal, wie die Dinge hätten anders laufen sollen. Ich schließe meine Augen und führe leise Selbstgespräche, doch nichts wird mich da herausreißen. Niemand ist hier bei mir, niemand war hier seit Jahren. Ich denke nach, wen ich anrufen könnte, um mir Gesellschaft zu leisten, um mich von dieser Erscheinung abzulenken, aber mir fällt niemand ein. Ich kann wohl kaum mit meiner Mutter darüber reden, es ist nicht mal sicher, ob sie den Anruf annimmt. Sie lebt jetzt mit einem Architekten zusammen, der mich nicht mag und mich nicht mit ihr reden lässt. Ich frage mich, ob sie überhaupt verstehen würde, wovon ich rede, selbst wenn ich den Versuch machte anzurufen. Und von ihr mal abgesehen, wen soll es sonst noch geben? Der Schweiß auf meiner Haut wandelt sich zu einem Frösteln. Ich schaue auf meinen Kaffee. Es steigt noch immer Dampf auf, wenngleich jetzt langsam, und die Oberfläche zeigt eine wellenförmige Reflexion des Deckenlichtes und einen großen Schatten, der es verdunkelt, mich.

   Daley hatte sein Hemd ausgezogen, bevor wir unser Ziel erreicht hatten. Wir hatten uns durch den Wald getastet, oder besser, ich hatte mich getastet, und Daley wusste offensichtlich genau, wo er mich hinführte. Er drängte mich durch einen dünnen. durch dicht stehende Bäume begrenzten Pfad, als plötzlich eine Lichtung aus dem Nichts auftauchte, die eine große Fläche vor uns auftat, eine Wasserfläche, dunkles Schwarz, glänzend und dick wie Öl. Daley drehte sich um und schaute mich an. Er grinste, das Mondlicht glitzerte auf seinem muskulösen Oberkörper und auf dem See hinter ihm. "Geil, was?" Wortlos nickte ich. "Ich nehme nicht viele Leute hierhin mit", sagte er. "Ich ging hier früher immer mit einem Freund schwimmen, der bei mir gegenüber wohnte, aber der ist vor drei Jahren weggezogen. Jetzt komme ich manchmal hierhin zurück, um nachzudenken." Er grinste erneut. "Lass uns schwimmen!", sagte er, und das nächste, was ich mitbekam, war, dass er seine Hose auszog und, nur noch mit einer Unterhose bekleidet, auf das Wasser zurannte. "Na, komm!", rief er mir zu, aber ich stand wie angewurzelt da und sah zu, wie sein Körper unter das Wasser glitt, einen kurzen Moment von diesem aufgenommen wurde, bis sein Kopf wieder auftauchte und er rief "Worauf wartest du ?!" Ich antwortete nicht und schaute hoch auf den Mond, riesig und voll, beladen mit einem klaren, reinen weißen Licht. Obwohl ich nicht mehr zur Kirche gegangen war, seit mein Vater uns verlassen hatte, dachte ich an die Hostien, wie sehr der Mond diesen dünnen, perfekten Kreisen ähnelte. Der Körper -

   An diesem Morgen ging ich nicht in die Nähe des Telefons. Was sollte ich sagen, wenn ich anrufen würde? Wie sollte ich reagieren, wenn das Telefon klingelte und er wäre am Apparat ? So war ich jedesmal angespannt mit jedem Muskel meines Körpers, wenn das mechanische Piepsen des Telefons durch das Haus schallte. Oft zündete ich mir dann eine Zigarette an und bildete mir ein, das würde mich beruhigen. Tatsächlich war es aber nach dem ersten Klingeln niemals für mich, er war es nicht. So war es mir selbst überlassen, mich in brutaler Klarheit daran zu erinnern, was die Nacht zuvor passiert war.

       Tropfnass kam Daley auf mich zu. "Du willst doch schwimmen, oder?" Ich nickte, aber fügte hinzu: "Ich bin jetzt einfach nicht in der richtigen Stimmung. Ich weiß nicht, was ich will." Daley lachte, einfach zu lang, und sagte. "Das weißt du nie. Mann! Das sind die besten Jahre unseres Lebens! Das sagt man jedenfalls. Du musst dich entscheiden." Dann berührte er mich. Aber es war nicht der scherzhafte, kumpelhafte Schubser, an den ich gewöhnt war, es war anders, irgendwie intim. Seine Finger suchten zielsicher meine Brustwarzen, blieben dort für eine Sekunde, bevor er seine Hand wegzog und seinen Kopf senkte, unfähig, mich in diesem entscheidenden Augenblick anzusehen. Mit gebrochener Stimme sagte er "Alex, ich muss das tun." Ich verstand immer noch nicht und schaute auf seine Hände hinab. Wie alles an ihm waren sie von drahtiger und kräftiger Muskulatur. Nach einem Moment der Abwesenheit, in dem ich auf die Muskelstränge von Daleys Hand und Unterarm schaute, kam ich wieder zu mir, und plötzlich begriff ich, was er wollte und was als nächstes passieren würde. Ich war voller Furcht und Aufregung, und dann ging alles so schnell. Eine Hand berührte meine Wange, und ich glaube, ich sagte "nein", aber vielleicht hallte die Stimme auch nur im Innern meines Kopfes. Dann küsste er mich. Ich hatte noch nie zuvor ein Mädchen geküsst, geschweige denn einen Jungen, und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Der Druck, mit dem er sich an mich presste, warf mich buchstäblich zu Boden. Seine Hand kam wieder auf mein Gesicht zu und überdeckte dabei einen majestätischen Mond. Ich öffnete meinen Mund und wollte etwas sagen, aber er legte einen Finger an meine Lippen und sagte: "Shhh". Und dann tat er etwas anderes, er öffnete meinen Gürtel, zog mein Hemd hoch und küsste mich auf den Bauch. Ich versuchte, mir ins Gedächtnis zu rufen, was gerade passierte, aber meine Gedanken flogen davon, überwältigt von dem Unerwarteten, das da geschah. Als die Realität endlich wieder zu mir zurück kam, schaute ich nach unten: Daley hatte mein Teil im Mund. Der Anblick machte mich sprachlos, war viel überwältigender als die erste Berührung, der erste Kuss, aber auf eine andere Art. Plötzlich stand ich, während er noch immer am Boden war. Ich zog meine Hose hoch. "Es tut mir leid", sagte er, glaube ich, denn ich hörte nicht hin, ich dachte nicht nach, ich reagierte nur, ich rannte, rannte, so schnell und so weit ich konnte. Ich kannte den Weg durch den Wald nicht, aber der Instinkt brachte mich zurück zu meinem Auto, der Instinkt brachte mich nach Hause.

   Ich rannte unter einem Vollmond, unter dem Schatten stiller Bäume und versuchte so viele Erinnerungen auszulöschen, wie ich packen konnte. Ich wusste nicht, was ich wollte, so versuchte ich, gar nichts zu wissen. Trockene Zweige krachten unter meinen Füßen, und ich rannte. Sein Gesicht war meistens geteilt durch ein dummes Grinsen, als ob er ständig high wäre. Ich atme den Geruch seiner Haut ein, rein und weich, eingebettet in seine Stärke wie ein Kind. Ich sah Botschaften, die ich nicht deuten konnte, starrte auf sie, als ob das einen Sinn hineinbringen würde. Daley, flüstere ich, und er lächelt wortlos, offensichtlich erfreut, mich zu sehen, er lächtelt so wie damals auf der High School. Ich verstand immer noch nicht und schaute auf seine Hände hinab. Wie alles an ihm waren sie von drahtiger und kräftiger Muskulatur. Nach einem Moment der Abwesenheit kam ich wieder zu mir. Ich versuchte, mir ins Gedächtnis zu rufen, was gerade passierte, aber meine Gedanken flogen davon. Aber diesmal ist es meine Hand, die nach seinem Gesicht greift, sie berührt warme Haut. Ich wusste nicht, worauf ich sonst meine Augen richten sollte, und ich konnte sie nicht einfach tun lassen, was sie wollten. Ich versuchte, sie auf dem Boden zu halten, aber ab und zu wichen sie ab. Aufwärts. Ich wusste nicht, was ich wollte, also versuchte ich, gar nichts zu wollen.

   Es scheint alles gestern passiert zu sein. Aber gestern liegt neun Jahre zurück.

   Und ich schaue auf die Uhr gegenüber im Zimmer und stelle fest, dass ich fast meine ganze Stunde vertrödelt habe und mich jetzt beeilen muss, um nicht zu spät zur Arbeit zu kommen. Es ist schwer für mich, in die Gänge zu kommen, aber irgendwie packe ich's und fühle, wie mir ein ganzer Schwarm von Erinnerungen auf jeden Schritt folgt. Ich lasse die Dusche aus, ziehe mich an und mache einen Moment Pause für eine zweite Tasse Kaffee, eine weitere Zigarette. Ich stehe am Fenster und sehe, wie zögernd und langsam das Leben in die Stadt zurückkehrt. Und ich erinnere mich, dass ich aus einer Gegend kam, wo Bäume standen, immer aufmerksam, um jeden Schritt von mir zu beobachten. Sie scheinen so nah, und es frustriert mich, dass ich sie nicht zurückbringen kann. Die Dinge, die ich wirklich gewollt habe. Nie wusste ich, was sie waren, deshalb ließ ich sie los.