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die rote flut

   Udo hängt über der Bordtoilette des Flugzeugs und kotzt. Er kniet vor der Schüssel, die Arme auf der Klobrille abgestützt. Sein Oberkörper zittert, und vor lauter Anstrengung stehen ihm Tränen in den Augen. Immer wieder steigt dieses Übelkeitsgefühl in ihm hoch. Sein Bauch verkrampft sich erneut und ein weiterer Schwall mit dem Inhalt seines Magens landet in der Kloschüssel. Aber das schlimmste sind diese entsetzlichen Kopfschmerzen, der kaum auszuhaltende Druck auf den Augen und die Stiche, die durch Udos Kopf rasen und die wie immer, wenn Udo eine seiner Migräneattacken hat, der eigentliche Auslöser für seine Übelkeit sind.

       Udo hat schon seit Jahren Probleme mit Migräne. Als er hörte, dass sie vererbbar ist, fiel ihm wieder ein, dass seine Mutter, als er noch klein war, auch darunter gelitten hatte und manchmal tagelang nicht ansprechbar war.

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Jan

Drachenzeit

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Der Mann im Mond

Tarot

Die rote Flut

   Toll, hat er damals gedacht, ich habe anscheinend wirklich nur die schlechten Eigenschaften meiner Eltern geerbt. Ist ja mal wieder typisch!

    Wenn eine der Attacken ihn in ihrem Griff hat, ist der Udo, den er so gerne nach außen hin darstellt, nicht mehr wieder zu erkennen. All seine Kraft, seine Stärke und seine Entschlossenheit sind dann wie weggeblasen. Stattdessen überziehen sich seine sonst so strahlend grünen Augen mit einem glasigen Film, und er wirkt wie ein kleines Kind, verloren und hilflos den Schmerzen ausgeliefert. Verletzlich.

    Im Laufe der Zeit hat er gelernt, auf die Symptome zu achten und die Schmerzen so klein wie möglich zu halten. Sobald er den geringsten Druck im Kopf bemerkt, nimmt er ein Aspirin, brüht sich einen starken Kaffee auf und macht irgendeine stupide körperliche Arbeit wie Putzen oder Staub saugen. Im Anfangsstadium einer Migräne hilft das manchmal noch, hat er beobachtet. Aber meistens bemerkt er die beginnende Migräne erst im zweiten Stadium, wenn es keinen Sinn mehr hat, Tabletten zu nehmen, weil sie den Schmerz nicht mehr abschalten können. Das einzige, was er dann noch versuchen kann, ist, zumindest die Übelkeit und das Erbrechen zu verhindern. Er legt sich auf das Bett im Schlafzimmer, schließt die Augen und atmet langsam und tief durch, bis seine Atemfrequenz dem eines Schlafenden ähnelt. Er kann dann die Schmerzen schon von weitem auf sich zukommen sehen. Sie überrollen ihn wie eine Flutwelle, die über seinem Kopf zusammenschlägt und ihn hilflos in ihrem Sog hin und her wirbelt. In seinen Gedanken stellt Udo sich dann vor, wirklich im Meer zu stehen, während die Flut auf ihn zurast. Und wie bei einer richtigen Flutwelle hat Udo gelernt, dass es besser ist, der Welle aus Schmerzen keinen Widerstand entgegenzusetzen, sich dem Tosen in seinem Kopf zu ergeben, sich von den Wogen überrollen und sie dann hinter sich zu lassen. In letzter Zeit hat die Stärke der Schmerzen zugenommen, und er kann ihre Intensität daran messen, welche Farbe die Flutwelle hat, die ihn in seiner Vorstellung überrollt. Je heller die Farbe, desto größer der Schmerz. Beim letzten Anfall war die vorherrschende Farbe grün, und die Schmerzen waren auch nicht ganz so stark, aber diesmal haben die aufgepeitschten Wellen eine dunkelviolette Farbe, und sie lassen Udo hilflos keuchend und atemlos über der Kloschüssel hängend zurück. Vielleicht liegt es daran, dass er hier keine Möglichkeit hat, sich hinzulegen, sich auf die kommenden Schmerzen innerlich vorzubereiten und zu konzentrieren. Die Ablenkungen sind zu groß. Da ist das Brummen der Flugzeugmotoren, das grelle Licht und die Enge in der Bordtoilette, das besorgte, ungeduldige Klopfen der Stewardess an der Tür.

    Unbeholfen und noch immer mit stechenden Schmerzen über seinen Augen rappelt sich Udo vom Boden auf und spült sich den Mund am Waschbecken aus, lässt etwas Wasser über sein Gesicht laufen. Dann schließt er die Tür auf und wirft der Stewardess ein gequältes Lächeln zu, das ihr signalisieren soll, dass er allein zurecht kommt. Langsam und mit unsicheren Schritten geht er zu seinem Platz in der Mitte des Flugzeugs zurück.

    Manchmal hat Udo den Verdacht, dass seine Migräneattacken unmittelbar dann auftauchen, wenn er Psychostress hat. Er kann sich noch gut daran erinnern, wann der erste Anfall auftauchte. Damals, als Björn - mein Gott, wie viele Jahre war das jetzt schon her? - gerade im Sterben lag und nicht mal mehr sprechen konnte, weil das Virus sein Sprachzentrum befallen hatte, war er Tag und Nacht nur für ihn da gewesen, Wochen über Wochen, bis er gedacht hatte, er würde gleich schreiend gegen eine Wand laufen. Es war so schlimm gewesen, dass er sich heimlich gewünscht hatte, dass Björn schneller sterben würde, nur um alles hinter sich zu bringen - das Warten, die Anspannung und die Hoffnungslosigkeit. Und da hatte ihn eines Nachmittags wie aus heiterem Himmel dieser Kopfschmerz getroffen, war wie ein Blitz hinter seine Augen eingedrungen, und er wäre fast ohnmächtig geworden. Zum Glück war damals auch Nane in der Wohnung, und sie hatte für den Rest des Tages Björns Pflege übernommen, während er, sich vor Schmerzen windend, völlig unfähig war, auch nur den Kopf zu bewegen.

    Seitdem war er die Migräne nicht mehr losgeworden. Immer wieder trat sie danach sporadisch auf, mal mehr, mal weniger, bis er sich an sie gewöhnt und fast schon gelernt hatte, sie in Stresssituationen zu erwarten, zum Beispiel, wenn er Ärger in seinem Job hatte oder, wie in den letzten Monaten immer öfter, wenn er und Wulf sich mal wieder in den Haaren lagen, eine ihrer üblichen Beziehungskrisen durchlebten.

    Genau, denkt Udo, wenn wir uns heute morgen vor dem Abflug nicht gestritten hätten, wäre mir vielleicht diesmal die Migräne erspart geblieben.

    Schwerfällig lässt er sich auf seinen Platz fallen und sieht seinen Freund an, der auf dem Platz neben ihm sitzt. Einen Moment lang kann Udo sich nicht mehr daran erinnern, worüber sie sich heute Morgen gestritten haben. Doch. Es ging darum, dass Udo vier Bücher für den Urlaub einpacken wollte, und Wulf ihm vorgeworfen hatte, er würde damit Christof und Ingo, mit denen sie sich das Apartment in Sitges teilten, indirekt signalisieren, dass er mit ihnen im Urlaub eigentlich nichts zu tun haben wolle. Der Streit war dann soweit gegangen, dass Wulf ihm unterstellt hatte, er, Udo, würde sowieso am liebsten ganz allein in Urlaub fahren, auch ohne Wulf, und zum Schluss hatte Udo wutentbrannt zwei der vier Bücher wieder ausgepackt und zu Hause gelassen. Und jetzt war die Migräne da.

    Als Udo versucht, seine Beine unter dem engen Sitz auszustrecken, schreckt Wulf aus dem Gespräch hoch, in das er mit Christof vertieft war.

    "Na", sagt er, "ist es mal wieder so weit?"

    Udo nickt müde. "Ich versuche, ein bisschen zu schlafen", sagt er und schließt die Augen. Wie häufig in letzter Zeit drängt er die Vermutung beiseite, dass sein Freund ihm gegenüber immer gleichgültiger reagiert.

    Wulf nickt achselzuckend und wendet sich wieder Christof zu.



    Damals, als sie sich vor gut eineinhalb Jahren kennen lernten, war alles ganz anders gewesen. Udo, zu diesem Zeitpunkt noch Deutschlehrer in Paris, hatte Nane besucht, die, nachdem ihr Hamburg nicht mehr gefallen hatte, wieder nach Köln zurückgegangen war. Es war ein ausgedehnter Besuch gewesen, Udo hatte den größten Teil seines Jahresurlaubes genommen und sich die Zeit damit vertrieben, Plätze und Straßen wiederzuentdecken, die er seit seinem Umzug nach Paris nicht mehr gesehen hatte. Stundenlang war er nachmittags durch die Stadt gelaufen, immer hart am Rande der Sentimentalität, hatte sich den kühlen Wind des beginnenden Herbstes um den Kopf wehen lassen und sich gefragt, ob er wieder in der Lage sei, hier zu wohnen, oder ob die Stadt für ihn immer mit der Erinnerung an Björn verknüpft sein würde. Irgendwann, ohne dass er es wollte, hatte er sich dann plötzlich vor dem Haus wieder gefunden, in dem er und Björn zusammen gewohnt hatten, hatte hochgesehen zu dem Fenster, hinter dem Björn gestorben war, und hatte angefangen zu weinen wie ein Schlosshund. Aber nicht, wie er zu seiner eigenen Verwunderung feststellte, weil er die Erinnerung nicht ertragen konnte, sondern weil der Anblick des Fensters, hinter dem ein so wichtiger Teil seines Lebens sich abgespielt hatte, nicht mehr als eine dumpfe, vage Traurigkeit in seiner Magengrube hinterließ und die Gewissheit, dass dieser Teil seines Lebens schon lange hinter ihm lag.

    Auf dem Rückweg zu Nanes Wohnung war er zur S-Bahn gegangen, und auf der gegenüberliegenden Halteseite hatte er Wulf entdeckt. Groß, mit kurzgeschnittenen rotblonden Haaren und einem grobkarierten Hemd, hatte Wulf in eine Zeitung vertieft in einer Ecke der Bahnstation gestanden, den Lärm und die Hektik um ihn herum überhaupt nicht wahrnehmend. Minutenlang hatte Udo ihn betrachtet, konnte sich überhaupt nicht losreißen und hatte mehrmals die Bahn, mit der er eigentlich fahren wollte, abfahren lassen. Irgendwann hatte Wulf bemerkt, dass er beobachtet wurde, hatte sich unsicher umgesehen und dann Udo entdeckt. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen und ihm ein kurzes Lächeln zugeworfen. Dann hatte er wieder versucht, seine Zeitung zu lesen, aber immer wieder waren seine Augen in Udos Richtung geschnellt, wie um sich zu versichern, dass Udo immer noch da stand und ihn beobachtete. Irgendwann, Udo kam es wie eine kleine Ewigkeit vor, faltete Wulf seine Zeitung zusammen, sah zu ihm hinüber und bedeutete Udo mit einem Kopfnicken, mit ihm zusammen aus der S-Bahn-Station hinauszugehen. Und Udo war ihm wie ein Schuljunge hinterhergelaufen. Am Ausgang hatten sie scheu überlegt, ob sie einen Kaffee zusammen trinken sollten, aber dann war die körperliche Anziehungskraft zwischen beiden auf einmal so groß geworden, dass sie sich eine halbe Stunde später in Wulfs Wohnung im Bett wieder fanden.

    Danach war alles relativ schnell gegangen. In den ersten Monaten hatten sich Udo und Wulf fast jedes Wochenende gegenseitig besucht. Entweder war Wulf nach Paris gefahren, oder Udo hatte ihn in Deutschland besucht, und beide hatten bald gemerkt, dass zwischen ihnen noch mehr war als nur gegenseitige Sympathie. Schon nach kurzer Zeit wurden sie sich bewusst, dass ihnen eine Wochenendbeziehung nicht ausreichte, und als Udo durch Zufall zu diesem Zeitpunkt eine Stelle in seiner Heimatstadt als Dolmetscher für Französisch und Spanisch bei einer untergeordneten Regierungsbehörde angeboten bekam, entschlossen sich beide, Nägel mit Köpfen zu machen und zusammenzuziehen. Udo war sich zwar darüber im Klaren, dass er ein ziemlich großes Risiko einging, wenn er mit einem Mann in einer Wohnung lebte, den er kaum drei Monate kannte, aber das war ihm damals egal gewesen, so sehr war er in dem Gefühl gefangen, endlich wieder verliebt zu sein und geliebt zu werden.

    Das war vielleicht auch der Grund, weshalb Udo die Schwierigkeiten, die er und Wulf schon bald hatten, nicht so ernst nahm. Außerdem gab es so viele Dinge, die ihn vom Zustand ihrer Beziehung ablenkten. Erst musste er sich an seinen neuen Job gewöhnen und an die Tatsache, dass mit diesem neuen Beruf auch sehr viele Dienstreisen verbunden waren und er häufig einen Teil der Woche gar nicht zu Hause war. Nebenbei gab es immer wieder neue Sachen für die gemeinsame Wohnung anzuschaffen und Diskussionen darüber, welche Farbe die Badezimmerkacheln haben sollten, ob dreitausend Mark für ein Wohnzimmersofa zu viel seien oder nicht, wie groß ein Kleiderschrank sein musste, damit sie beide Platz für ihre Sachen darin hatten. Auch die Umstellung auf einen neuen Freundeskreis lenkte Udo vom Zustand seiner Beziehung ab. Von seinen alten Freunden in Köln waren nicht mehr viele da, einzig zu Nane hatte Udo noch engeren Kontakt, also versuchte er, sich in Wulfs Freundeskreis zu integrieren, was ihm auch schnell gelang. Gerade mit Ingo, einem alten Schulfreund von Wulf, kam er besonders gut zurecht, während Christof, der beste Freund von Wulf, für Udos Geschmack ein wenig zu arrogant war.

    Aber irgendwann bemerkte Udo, dass seine Migräneattacken, die zu Beginn der Beziehung mit Wulf fast völlig verschwunden waren, wieder deutlich zunahmen, und die Abstände, in denen er schmerzfrei war, kürzer wurden. Von da war es nur noch ein kleiner Schritt, bis Udo begriff, dass seine wiederkehrenden Kopfschmerzen unmittelbar mit seiner Unzufriedenheit in der Beziehung zu Wulf zusammenhingen. Ganz deutlich wurde ihm dies, als er eines Nachmittags mit einem kühlen Waschlappen auf der Stirn im Wohnzimmer auf der Couch lag und versuchte, eine aufkommende Attacke zu bekämpfen. Als Wulf von der Arbeit nach Hause kam und Udo vorfand, hatte er nur ein abweisendes 'Oh nein, nicht schon wieder!' für ihn übrig und ging dann ins Schlafzimmer, um seine Sportsachen zusammenzusuchen, weil er eine halbe Stunde später zum Aerobic verabredet war. Nach zehn Minuten hatte er die Wohnung mit einem knappen 'Tschüss' in Udos Richtung wieder verlassen. Udo hatte das Gefühl gehabt, geohrfeigt worden zu sein, und kurz darauf hatte eine Migräneattacke begonnen, die Udo in dieser Stärke schon längere Zeit nicht erlebt hatte.

    Udo begann, sich und Wulf genauer zu beobachten, immer mehr Dinge zu finden, die ihn an ihrer Beziehung und insbesondere an Wulf störten. Da war Wulfs Unbeholfenheit und Unwillen, wenn Udo kuscheln wollte, die Gleichgültigkeit, mit der er auf Udos Probleme bei der Umstellung auf den neuen Job reagierte, das Chaos, das Udo in der Wohnung vorfand, wenn er einige Tage auf Dienstreise gewesen war, aber vor allen Dingen Wulfs Unfähigkeit, auf Udos Kritik einzugehen.

    Einmal hatte Udo Wulf ziemlich genervt vorgeworfen, dass das Badezimmer wie ein Schweinestall aussehe, und er sich auch einmal dazu bequemen könne, das Klo zu putzen.

    "Weißt du", hatte Wulf damals ziemlich pampig geantwortet, "ich habe mit dem Badezimmer kein Problem. Wenn es dir zu dreckig ist, dann ist das deine Sache." Damit hatte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Porno zugewandt, den er sich aus dem Sex-Shop ausgeliehen hatte, und Udo hatte sich gefühlt, als würde er gegen eine Gummiwand anrennen.

    Seitdem gab es Momente, in denen Udo sich fragte, ob er noch einmal sein Leben in Paris für Wulf aufgeben würde, wenn er die Wahl hätte, und manchmal war er sich seiner Antwort nicht mehr sicher. Und das erschreckte ihn, denn auf der anderen Seite wusste er auch, dass er Wulf liebte und ihn in seinem Leben nicht mehr missen wollte. Niemand sonst war in der Lage, ihm dieses Gefühl von Zugehörigkeit zu vermitteln, von Geborgenheit. Niemand sonst konnte Udo wie Wulf mit Kleinigkeiten zum Lachen bringen, mit niemand anderem war es möglich, sich seinen Tagträumen und Phantasien über Zukunftspläne so hinzugeben wie mit Wulf. Udo erinnerte sich gerne an die Nachmittage, an denen sie auf ihrem Balkon gelegen hatten, jeder einen Martini schlürfend, während ihnen die Sonne auf den Bauch brannte, und Luftschlösser gebaut hatten über Ferien auf einer unbewohnten kleinen Südseeinsel mit Palmen und Bounty-Reklame-Männern, über das Leben in einer unbezahlbaren Penthousewohnung mit einer riesigen Dachterrasse in der Innenstadt und einer Nacht mit Jeff Stryker oder Al Parker.

    Aber kaum etwas davon war mittlerweile in ihrer Beziehung übrig geblieben. Stattdessen war es zur Regel geworden, dass sie sich angifteten, einander aus dem Weg gingen oder einfach nur von dem anderen genervt waren. Die anfängliche Vertrautheit hatte einer immer größer werdenden Gleichgültigkeit Platz gemacht. Die Versöhnungen zwischen ihnen wurden immer seltener und hielten kaum mehr als ein bis zwei Wochen.

    Außerdem kam noch hinzu, dass Wulf immer weniger Zeit in der gemeinsamen Wohnung verbrachte, oft stundenlang weg war, ohne dass Udo wusste, wo er sich aufhielt, und beim Nachhausekommen vage Ausflüchte als Entschuldigung hervorbrachte, die alles und nichts heißen konnten. Anfänglich hatte Udo dieser neuen Entwicklung keine größere Bedeutung beigemessen, hatte auch aufgrund seiner eigenen häufigen berufsbedingten Abwesenheit gar nicht bemerkt, wie selten auch Wulf zu Hause war. Aber in der letzten Zeit war es ihm doch aufgefallen, und nun wusste er nicht, was er davon halten sollte. Die logische Erklärung für Wulfs Verhalten konnte oder wollte Udo nicht sehen.



    Am nächsten Morgen wird Udo wach, als die Sonne durch die Glasscheiben auf sein Gesicht scheint und ihn in der Nase kitzelt. Es ist heiß in dem Zimmer. Das Laken, auf dem Udo liegt, klebt an seinem Körper. Die Tür zum Balkon ist geschlossen, und die Hitze staut sich in dem Raum. Obwohl es schon Mitte September ist, ist der Sommer hier an der Nordküste Spaniens noch nicht zurückgewichen. Udos Migräne ist verschwunden. Alles, was zurückgeblieben ist, ist ein dumpfes Gefühl in seinem Hinterkopf. Aber auch das, wie Udo aus Erfahrung weiß, wird nachlassen, wenn er etwas gegessen hat.

    Er sieht sich in dem Zimmer um, in dem er liegt, und langsam kommt die Erinnerung an den gestrigen Tag wieder zurück, wenn auch verschwommen wie durch einen Nebelschleier. Er kann sich erinnern, dass sie nach der Landung des Flugzeugs noch eine Zeit lang mit der Bahn fahren mussten und dann am Bahnhof in ein Taxi gestiegen sind, das sie zu dem Apartmentkomplex gebracht hat, in dem sie wohnen. Aber Udo hat keine Ahnung, wie er die einzelnen Etappen dieser Reise bewältigt hat, oder was passiert ist, nachdem er in dem Apartment angekommen war. Das einzige Bild, an das er sich erinnern kann, ist, dass er kotzend in einer Ecke vor dem Bahnhof von Sitges gestanden hat, in der Erwartung, dass ihm jeden Moment der Schädel platzt. Und er erinnert sich, dass Wulf nicht nur sein eigenes, sondern auch Udos Gepäck fluchend die Treppen zu ihrem Apartment hochgeschleppt hat. Alles andere ist weg.

    Udo sieht auf seine Armbanduhr. Kurz vor elf Uhr. Er muss mehr als fünfzehn Stunden hintereinander geschlafen haben. Verwundert zieht er die Augenbrauen hoch. Dann hebt er vorsichtig den Kopf, dreht ihn langsam einmal nach links und einmal nach rechts. Nichts. Die Schmerzen sind weg. Udo atmet auf.

    Der Platz neben ihm ist zerwühlt und leer. Wulf scheint schon aufgestanden zu sein. Udo hört draußen auf der Terrasse Zeitungsrascheln. Schnell schwingt er sich aus dem Bett und greift aus dem Koffer, der vor ihm auf dem Boden steht, die erstbesten Bermuda-Shorts, die ihm in die Hände fällt. Dann öffnet er die Balkontür und geht nach draußen.

    Ingo sitzt an einem großen runden Plastiktisch, auf dem die Reste eines Frühstücks stehen, die Beine auf einen Stuhl gelegt, schlürft einen Kaffee und blättert in einer Zeitung.

    "Morgen", sagt Udo und setzt sich auf einen der leeren Stühle, die um den Tisch herum stehen.

    "Morgen", sagt Ingo und sieht zu Udo herüber. "Willkommen im Urlaub."

    Udo lächelt und schüttet sich einen Kaffee ein.

    "Na", sagt Ingo, "geht´s dir wieder besser?"

    Udo nickt. "Ja. Alles wieder okay. Die Schmerzen sind weg." Er nimmt sich ein Croissant und fängt an, es mit Butter zu bestreichen. "Bring mich mal auf den neuesten Stand. Ich habe vor lauter Kopfschmerzen gestern gar nichts mehr mitbekommen." "War wohl eine ziemlich heftige Attacke?!", sagt Ingo.

    Udo zuckt mit den Schultern und beißt in sein Croissant. "Wo sind die anderen?" fragt er dann mit vollem Mund.

    "Schon am Strand", antwortet Ingo. "Die wollten sich die besten Plätze sichern und konnten es nicht mehr abwarten."

    "Hm", macht Udo. "Wulf hätte ja zumindest mal versuchen können, mich zu wecken." Er hält kurz inne und kaut dann weiter. "Wo sind Christof und du untergebracht?"

    "Ich hab das kleine Zimmer direkt vor eurem Schlafzimmer", sagt Ingo, "und Christof hat das dritte Schlafzimmer hier auf der anderen Seite vom Balkon." Er deutet vage mit seinem Kopf auf die zweite Balkontür, die von der Terrasse in die Wohnung führt. "Ist eigentlich ganz nett, das Apartment. Allerdings habe ich noch nicht herausgefunden, wie man den Boiler anstellt, um heißes Wasser zu bekommen."

    "Na ja", sagt Udo und wischt sich den Schweiß von der Stirn, "so furchtbar viel heißes Wasser werden wir bei der Hitze hier wohl kaum brauchen." Eine Weile ist er still und beschäftigt sich nur mit seinem Frühstück, während Ingo sich wieder in seine Zeitung vertieft. "Wie bin ich eigentlich hierher gekommen?", fragt Udo dann.

    "Weißt du das wirklich nicht mehr?", fragt Ingo erstaunt zurück.

    Udo schüttelt den Kopf. "Ich hab einen ziemlichen Filmriss."

    "Nachdem du dir scheinbar die Lunge aus dem Leib gekotzt hast im Flugzeug, hast du den Rest des Fluges geschlafen", sagt Ingo. "Wulf hat dich ein paar mal geschüttelt, aber du warst echt nicht wach zu kriegen. War wahrscheinlich auch besser so. In der Bahn von Barcelona nach Sitges ging es dir wieder etwas besser, aber dafür hast du am Bahnhof in Sitges nochmal gekotzt." Udo nickt. "Ja", sagt er, "daran kann ich mich sogar erinnern."

    "Als wir dann hier waren", fährt Ingo fort, "hat Wulf dein Gepäck raufgeschleppt, und Christof und ich haben dich mehr oder weniger auch hier heraufgetragen. Dann bist du ins Bett gekippt und warst sofort wieder weg."

    "Oh", murmelt Udo. "Danke."

    Ingo macht eine wegwerfende Handbewegung. "Ist schon okay. Ja, und während du dann gestern Abend schon geschlafen hast, hab ich noch ein paar Einkäufe fürs Frühstück heute gemacht, und Christof und Wulf sind abgezogen in die Szene."

    "Und du bist nicht mehr weggegangen?"

    "Nein", sagt Ingo. "Ich war zu müde. Außerdem sind wir noch zwei Wochen hier. Die Mädels in der Szene laufen mir nicht weg."

    Udo schweigt einen Moment. "War Wulf sehr sauer?", fragt er dann.

    Ingo sieht ihn scharf an. "Wieso fragst du?"

    "Jetzt hör schon auf!" sagt Udo und zieht die Stirn in Falten. "Es ist doch ziemlich offensichtlich, dass unsere Beziehung zur Zeit nicht gerade gut läuft, oder?"

    "Na ja", druckst Ingo herum, "es fällt schon auf, aber auf der anderen Seite geht es mich ja auch nichts an. Willst du denn darüber reden?"

    Udo seufzt. "Nein. Im Moment eigentlich nicht. Es kommt mir manchmal nur so vor, als ob..." Er bricht mitten im Satz ab und starrt nach draußen über den Balkon, von wo aus der Blick über die Strandpromenade und den Strand hinaus bis auf das offene Wasser geht. Das Meer ist ziemlich unruhig, und Udo beobachtet, wie die Wellen bis zum Horizont weiße Gischtkronen formen und danach in sich zusammenfallen. "Egal", sagt er dann. "Also, war Wulf nun sauer oder nicht?"

    Ingo schüttelt den Kopf. "Nein", sagt er beruhigend. "Wulf war eigentlich ganz gut gelaunt gestern Abend. Christof und er sind Arm in Arm losgezogen. Mach dir mal keine Sorgen. Das kommt bestimmt alles wieder in Ordnung im Urlaub. Vielleicht braucht ihr einfach nur mal wieder Zeit für einander."

    "Ja, vielleicht", sagt Udo.

    Ingo steht auf und beginnt, den Frühstückstisch abzuräumen. "Hör mal", sagt er beiläufig, "kann es sein, dass du zugenommen hast? Die Jeans, die ich dir gestern Abend ausgezogen habe, war so eng, dass ich sie kaum runterbekommen habe."

    Udo stutzt. "Ach, du hast mich ausgezogen?", sagt er dann erstaunt. "Ich dachte, Wulf..."

    "Nein", sagt Ingo, "der war doch schon längst mit Christof unterwegs. Aber ich konnte dich doch nicht einfach in den Klamotten liegen lassen. Schlimm? Du hast ja so fest geschlafen, dass du eh nichts mitbekommen hast."

    "Ist schon okay", sagt Udo abwesend. "Danke."



    Wie schon während der letzten Tage ist das Meer auch heute wieder ziemlich unruhig. Zum ersten Mal, seitdem der Urlaub begonnen hat, scheint an diesem Tag nicht die Sonne. Udo steht am Strand und beobachtet die Wellen, die sich am Ufer mannshoch auftürmen, weiße Schaumkronen aufbauen, bevor sie mit einem ohrenbetäubenden Getöse wieder in sich zusammenfallen und am Strand mit großer Geschwindigkeit den Sand überspülen. Es ist windig und wegen des unruhigen Wassers hat die Strandwacht die rote Fahne an den Molen geflaggt, das heißt, dass heute das Baden im Meer verboten ist. Am Morgen hat es sogar geregnet und auch jetzt fallen noch vereinzelt dicke schwere Tropfen, die ein unregelmäßiges Muster in dem nassen Sand hinterlassen. Aufgrund des schlechten Wetters ist der Strand verlassen. Udo ist einer der wenigen Menschen, die heute überhaupt ans Meer gekommen sind. Vereinzelt laufen an ihm Pärchen vorbei, Hand in Hand oder auf der Suche nach Muscheln, die die Wellen ans Ufer gespült haben. Udo ist allein. Ingo hat es vorgezogen, in einem der diversen schwulen Cafés in der Altstadt nach Männern Ausschau zu halten, und Wulf wollte nicht mitkommen, als Udo einen Strandspaziergang vorgeschlagen hatte. Christof hat überhaupt nichts gesagt.

    Etwas hat sich geändert. Udo ist sich nicht sicher, was, aber er fühlt, dass eine Vorentscheidung gefallen ist. Und es kommt ihm so vor, als sei nicht er derjenige, der eine Entscheidung getroffen hat, sondern Wulf.

    Udo stellt sich in den Sand, genau dorthin, wo die letzten Ausläufer des Wassers seine nackten Füße umspülen, und beobachtet, wie er mit jeder Welle Millimeter für Millimeter tiefer im Schlick versinkt. Der Boden unter ihm ist weich und nachgiebig. Schon nach kurzer Zeit sind seine Füße völlig vom Schlick überdeckt. In seiner Kindheit, als er jedes Jahr mit seinen Eltern ans Meer gefahren war, hatte er sich auch immer an den Strand gestellt, wenn seine Mutter ihn ausgeschimpft hatte. Genau wie jetzt hatte er beobachtet, wie seine Füße langsam im Sand versanken, und hatte auf den Moment gewartet, an dem sein ganzer Körper vom Schlick verschlungen wurde. Aber weiter als bis über seine Fußknöchel kam der Sand nie.

    Udo legt den Kopf in den Nacken und versucht, mit der Zunge ein paar Regentropfen aufzufangen. Über ihm fegt der Wind dunkle Regenwolken vor sich her, und der Himmel hat eine graue Farbe angenommen. Das Wetter scheint noch schlechter zu werden.

    Das Gefühl, dass Wulf sich innerlich schon gegen ihn entschieden hat, wird immer stärker. Jetzt, wo sie schon seit Wochen keinen Sex mehr hatten, kommen Berührungen zwischen ihnen so gut wie nicht mehr vor. Kuscheln konnte Wulf ja schon früher nicht so gut ertragen. Aber jetzt ... wie zwei Fremde, die sich nichts mehr zu sagen haben. Es ist nicht so, dass sie sich weiterhin streiten - diese Phase scheint seit Beginn des Urlaubs beendet zu sein. Stattdessen geht Wulf Udo aus dem Weg, unternimmt kaum noch etwas gemeinsam mit ihm, vermeidet es, allein mit ihm in einem Raum zu sein, und wenn es dann doch einmal passiert, liegt eine gespannte Atmosphäre in der Luft, und Udo traut sich nicht, irgendetwas zu sagen, weil er genau weiß, dass Wulf es doch nur falsch auffassen würde. Also sagt er lieber gar nichts, verschanzt sich hinter seinen Büchern und tut so, als sei alles in bester Ordnung. Aber er hat keine Ahnung, was er eigentlich liest, kommt nicht voran, hat dieselbe Seite schon mindestens zehn Mal gelesen, ohne auch nur einen Satz zu begreifen.

    Wulf verbringt seine Zeit lieber mit Christof. Überhaupt scheinen die beiden unzertrennlich zu sein. Sie gehen zusammen in die Kneipen, und sie gehen zusammen zum Strand, ohne Ingo oder Udo zu fragen, ob sie nachkommen wollen. Vorgestern hatte Wulf `aus Versehen´ vergessen, Udo an dem überfüllten Strand einen Platz neben sich freizuhalten, und Udo hatte sich weit abseits von seinem Freund einen freien Platz suchen müssen. Und als Udo ihn dann später darauf angesprochen hatte, ob die Distanz zwischen ihnen von Wulf mit Absicht gehalten werde, hatte Wulf nur abgewinkt und aggressiv geantwortet, Udo sehe Gespenster. Es sei doch völlig normal, wenn man in einer Beziehung mal mehr Nähe, mal mehr Distanz habe. Sie hätten eben gerade eine Phase mit mehr Distanz, und ob Udo etwas dagegen hätte, dass er, Wulf, seinen Urlaub genieße? Aber er hatte ihm dabei nicht in die Augen sehen können.

    Udo kommt sich ausgeschlossen vor und überflüssig. Und ja, er ist eifersüchtig. Vielleicht hatte Wulf ja Recht, vielleicht wäre er tatsächlich lieber allein mit Wulf in den Urlaub gefahren. Vielleicht könnten sie dann ihre Beziehung noch einmal retten, vielleicht ist es aber auch sowieso schon zu spät. Vielleicht, vielleicht, vielleicht...

    Udo seufzt und blickt nach vorne auf das Meer. Der Regen und der Wind sind noch etwas stärker geworden, beide peitschen die Wellen noch etwas höher auf als vorher, die Brandung übertönt mittlerweile den Autoverkehr vor der Promenade. Udo dreht sich um. Er ist mittlerweile der einzige am Strand, alle anderen Menschen sind vor dem schlechten Wetter geflüchtet. Kurzentschlossen zieht sich Udo bis auf seine Badehose aus und legt seine Sachen und das mitgebrachte Handtuch auf eine der leer stehenden Strandliegen, die in sicherer Entfernung vom Wasser angekettet worden sind. Dann geht er wieder auf das Meer zu und beobachtet mit zusammengekniffenen Augen die Wellen, die auf ihn zurollen. Durch den aufwirbelnden Grund hat das Meer eine schmutzige blau-braune Farbe angenommen. Geduldig wartet er ab, bis er eine Woge ausmachen kann, die sich schon in der Ferne besonders hoch aufbaut, während sie auf ihn zurollt. Dann sprintet er schnell los, rennt ins Meer, erreicht die Flutwelle genau in dem Moment, wo sie ihren Zenit überschreitet. Mit all seiner Wut und seinem Frust wirft sich Udo in die Welle, um für den Sekundenbruchteil, in dem ihn das Meer umtost, allein auf der Welt zu sein und alles um sich herum wenigstens für einen Augenblick zu vergessen. Als die weißen Schaumkronen über seinem Kopf zusammenschlagen, reißt ihn die Wucht des aufgewühlten Wassers von den Füßen, einen Moment lang bekommt Udo keine Luft und verschluckt sich an dem Salzwasser. Der Strudel der Wellen wirbelt ihn hin und her, widerstandslos liefert er sich dem Wasser aus. Er verliert die Orientierung, weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Wild schlägt er mit Händen und Füßen um sich, bis er plötzlich wieder Boden unter sich verspürt und nach Luft schnappend den Kopf über die Wasseroberfläche streckt. Weiße Gischt perlt an seinem Oberkörper herunter und kitzelt seinen Bauch. Dann hat ihn die Flutwelle passiert und hinter sich gelassen. Ihre Ausläufer rollen am Ufer gemächlich aus. Zitternd stellt Udo sich hin und wischt sich mit den Händen das Wasser aus dem Gesicht. In seinem Brustkorb kann er sein Herz schlagen fühlen. Dann dreht er sich um, wendet den Blick ab vom Meer und watet vorsichtig an den Strand zurück.



    Als Udo die Treppen zu dem Apartment hochläuft, kann er die nächsten Kopfschmerzen in seinem Hinterkopf lauern fühlen. Wie ein wildes Tier hat sich die nächste Attacke schon in seinem Kopf verschanzt, belauert ihn wie eine ahnungslose Beute, bereit, bei der nächsten günstigen Gelegenheit über ihn herzufallen und ihre scharfen Krallen und Zähne in seinen Körper zu versenken.

    Udo lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen und geht geradewegs in die Küche, um sich einen starken Kaffee aufzusetzen. Er drückt eine Schmerztablette aus der auf dem Kühlschrank liegenden Verpackung und schluckt sie mit einem Glas Wasser hinunter. Noch ist es vielleicht nicht zu spät. Noch ist es möglich, die Attacke zurückzudrängen, in ihre Schranken zu weisen.

    Während die Kaffemaschine brodelt und nach einer Weile tropfenweise die gefilterte schwarze Flüssigkeit in die Kanne fließt, setzt sich Udo auf einen Stuhl, stützt sein Gesicht mit den Händen ab und versucht, seine Gedanken zu ordnen.

    Wieso hat er das Gefühl, dass Wulf sich schon längst gegen ihn entschieden hat? Und wenn es so ist, weshalb sagt er es Udo nicht? Und warum lässt er, Udo, so mit sich umgehen? In letzter Zeit kann Udo sich in seinen eigenen Reaktionen überhaupt nicht mehr wieder erkennen. Früher war er in der Lage, eigenständig Entscheidungen zu treffen, abzuwägen, was gut für ihn ist und was nicht und entsprechend zu handeln. Heute scheint seine Leidensfähigkeit unbegrenzt zu sein. In den letzten Wochen und Monaten ist er so merkwürdig passiv geworden, unfähig, seinen eigenen Willen zu formulieren, ja, sich überhaupt darüber klar zu werden, was es ist, das er will. Wo sind die Energie und das Sebstvertrauen geblieben, die er früher hatte?

    Der Kaffee ist endlich fertig, und Udo schüttet sich eine Tasse ein, macht sich auf den Weg ins Schlafzimmer, in der Hoffnung, auf dem Bett liegend und mit geschlossenen Augen die kommende Migräne irgendwie besiegen zu können. So wie er es schon ungezählte Male versucht hat. Eine mechanische Arbeit kann er hier nicht verrichten, wie er es sonst im Anfangsstadium einer Migräne gewohnt ist, also wird er versuchen, durch Ruhe und Atemübungen die Schmerzen klein zu halten. Ganz vorsichtig und leise tritt er auf, um seinem Kopf keine unnötigen Erschütterungen zuzumuten, nur sein Atmen durchbricht die Stille der Wohnung. Als Udo an Christofs Schlafzimmer vorbeigeht, registriert er im Unterbewusstsein leise Geräusche, die hinter der verschlossenen Tür hervordringen. Erst, als er schon fast in seinem eigenen Zimmer ist, bleibt er abrupt stehen und horcht genauer, glaubt, das Quietschen einer Matratze und leises Stöhnen herausfiltern zu können. Wulfs Stöhnen. Der Schmerz in seinem Hinterkopf wird plötzlich stärker.

    Und dann passieren mehrere Dinge gleichzeitig. Udo reißt, ohne zu überlegen, Christofs Schlafzimmertür auf und sieht, wie Christof nackt auf seinem Bett liegt, das Gesicht zu einer ekstatischen Fratze verzerrt. Wulf kniet hinter ihm, die Hände auf Christofs Körper aufgestützt, und stößt mit rhythmischen Bewegungen zu, immer wieder, während aus seinem Mund undefinierbare Laute dringen. Wulfs Augen sind geschlossen, und auf seinem Gesicht kann Udo gleichzeitig Anstrengung, Konzentration und Geilheit erkennen. Die beiden bemerken Udo erst, als Udo die Kaffeetasse, die er die ganze Zeit in einer Hand balanciert hat, aus den Fingern gleitet und mit großem Krach auf dem Boden zerspringt. Der heiße Kaffee bildet eine dampfende Pfütze auf dem Boden.

    In dem Augenblick, in dem Udo versteht, was er vor sich sieht, kann er sich auch schon nicht mehr wehren. Wie ein dumpfer Schlag mit einer Holzkeule überfällt ihn die Migräneattacke. Ein tiefes Rauschen füllt plötzlich seinen Kopf aus, wird lauter und lauter, bis es schließlich jedes Geräusch von außen ausblendet. Während Udo seinen Kopf mit beiden Händen festhält, versucht er, mehr Halt zu bekommen und rutscht mit dem Rücken die Wand herunter, bis er auf dem Boden sitzt. Und dann kann er die Flutwelle in seinem Kopf auf sich zurasen sehen. Mit der Geschwindigkeit eines Tigers springt sie auf ihn zu. Sie ist rot, hellrot, so hell, wie er sie noch niemals bisher gesehen hat, und die Schmerzen, die Udo erlebt, als die rote Flut über ihm und in seinem Kopf zusammenschlägt, sind unbeschreiblich. Die Schmerzen schnüren ihm die Kehle zu und lassen ihn verzweifelt nach Luft ringen, und er hat das Gefühl, dass sein Schädel auseinanderfliegt. Die Flut wirbelt Udo auf und nieder, schüttelt seinen ganzen Körper, hüllt ihn völlig ein, dringt in jede Faser seines Gewebes ein, bricht seinen Widerstand, bis er den Schmerzen völlig ausgeliefert ist. Kalter Schweiß tritt aus seinen Poren, und tief aus seinem Körper dringt ein Stöhnen, das er nicht kontrollieren kann. Hilflos wiegt er seinen Kopf in seinen Händen hin und her. Er kann nicht mehr unterscheiden, ob die Gischt, die in seinem Hirn brandet, ihn ersticken oder ertränken wird, jegliche Realität beginnt ihren Bezug zu verlieren. Dann wird Udo schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kommt, liegt er auf dem Bett in seinem eigenen Zimmer. Wulf sitzt neben ihm auf der Bettkante, nur mit einer Unterhose bekleidet. Von Christof ist weit und breit nichts zu sehen.

    "Großer Gott", murmelt Udo, "was ist denn passiert?"

    "Du bist ohnmächtig geworden", sagt Wulf, und in seiner Stimme kann Udo Besorgnis erkennen. Aber schwingt da nicht noch etwas anderes mit? Schuldbewusstsein? Ein schlechtes Gewissen? "Wieder eine deiner Migräneattacken", fügt Wulf hinzu. Udo nickt und bewegt dabei seinen Kopf so vorsichtig wie möglich, aber die Attacke ist vorbei und hat außer einer großen Müdigkeit und einer Entscheidung keine Spuren hinterlassen. Udo stützt sich auf den Ellenbogen auf und sieht seinem Freund ruhig ins Gesicht.